Page 5 - Bülacher Woche - KW 45 - 2024
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DIENSTAG, 5. NOVEMBER 2024 SEITE 5
Vor 85 Jahren marschiert Hitler in Polen ein – Kinder von damals erinnern sich
Das legendäre Datum «1. Sep- zeigen: «Allzeit bereit!» Unver-
tember 1939» hat sich bei vie- züglich wollte die kleine Erika
len Schweizer Kindern von ebenfalls den Pfadfindern, den
damals eingebrannt, als wäre «Bienli», beitreten.
es gestern gewesen. Geschich-
ten von Zeitzeuginnen und Gasthof «beschlagnahmt»
Zeitzeugen wurden im digita- Im aargauischen «Stilli» an der
len Buch «Schweizer Jugend Landesgrenze, im Gasthof der
im Zweiten Weltkrieg» einge- damals 13-jährigen Rita, zog
fangen und Schulen und Inte- das Militär ein. Das Restaurant
ressierten kostenlos zur Ver- wurde zum «Kantonnement»,
fügung gestellt. zur Militärunterkunft, umfunk-
tioniert. Sogar die private Kü-
Die Erinnerungen der Zeitzeu- che wurde «beschlagnahmt».
ginnen und Zeitzeugen lassen «Defacto hatten wir nur noch
die Mobilmachung plastisch er- das Schlafzimmer für uns», er-
scheinen. Kaum jemand stellt Quelle: Sammlung Max Baumann, Stilli zählt Rita und erinnert sich, wie
die Frage: «Wie haben Kinder Postkarte mit Stimmungsbildern aus «Stilli» die «Ausgemusterten» (ältere,
und Jugendliche der Kriegs- nicht mehr dienstpflichtige Sol-
generation den Tag der Mobil- sem Tag lernte das elfjährige Siebenjährige im Röcklein zu- daten) bei ständigem Jassen die
machung erlebt?» Im digitalen Mädchen, wie man «mit einem sammen mit ihrer Schwester Aarebrücke «überwachten».
Buch des «Vereins für zeitge- Trick die Militärmäntel («Ka- aufs Dach stieg, um mit ihm ein Quelle: Zeitzeugen zVg
mässes Lernen» kommen sie zu putt») ihrer beiden wehrpflich- Foto zu machen. Die Schwes- Für viele Zeitzeuginnen und Erinnerungsfoto vor der Mobilma-
Wort. tigen Onkel einrollen konnte, ter hatte die Pfadi-Uniform an- Zeitzeugen war prägend, als der chung mit Erikas (rechts im Bild) Va-
die unverzüglich ihre Sachen gezogen und wollte zusammen Vater ins Militär einrückte und ter und Schwester.
Kriegsausbruch packen und einrücken mussten. mit dem Vater den Wehrwillen die Mutter im Haus das Zepter
«Extrablatt, Extrablatt», schrien Pathetisch fasste die «Schwei- übernahm. Was Krieg bedeutet,
am Nachmittag des 1. Septem- zer Wochenschau» in einem konnten die Kinder zum Zeit-
ber 1939 die Zeitungsverkäu- Film Dokument zusammen: punkt der Mobilmachung nicht
fer in Basels Strassen. Mit einer «Am 1. September 1939 brach wirklich einordnen.
Sonderausgabe kündigten sie in Europa der Krieg aus. Die Ar-
das Ereignis des Tages an: Den mee war sofort mobilisiert. Die In der aktuellen politischen
Angriff der Deutschen Wehr- Sense wurde mit dem Gewehr Lage ist es von grosser Wich-
macht auf Polen. Fernseher in vertauscht.» tigkeit in den Schulen die Zeit-
jedem Haushalt oder Social Me- zeuginnen und Zeitzeugen der
dia gab es damals noch nicht. Hitler Stimme jagte damaligen Kriegsgeneration zu
mir Angst ein Wort kommen zu lassen und zu
In der Familie der Zeitzeugin Bei Charlotte, einer Zeitzeugin thematisieren.
Myrthe in Basel las man die Zei- aus Zürich, lief das Radio und
tung – das Extrablatt. An die- es herrschte helle Aufregung, Emma meinte kürzlich: «Ich
als sie von der Schule kam. würde mich bei einem Krieg
«Krieg» – was das bedeutete, auch um das Leben meines Va-
wusste sie aufgrund von Radio ters sorgen und um die Sicher-
Beromünster jedoch nur an- heit unseres Landes!» Dieses
satzweise. Charlotte, erst neun- Statement ist exemplarisch, wie
jährig, versteckte sich jeweils Jugendliche die Ereignisse der
unter der Bettdecke und hielte damaligen Zeit in die Gegen-
sich die Ohren zu, wenn Hitlers wart übertragen.
Stimme in der Vorkriegszeit im
Radio «ins Mikrophon ‹inege- Erika Bigler, Sekundarlehrerin
uste›»: «Ich wollte die schreck- und Präsidentin «Verein für
liche Stimme nicht hören», er- zeitgemässes Lernen»
zählt sie im digitalen Buch. www.erikabigler.ch
Krieg muss genauso schrecklich
wie Hitler sein, sagte sie sich.
«Allzeit bereit»
In lebendigen Worten erzählt
Quelle: Zeitzeugen zVg Quelle: Sammlung Max Baumann, Stilli
die Zeitzeugin Erika, wie sich
Rita, eine fröhliche Jugendliche, bei der Vater bei Kriegsausbruch in Der Gasthof «Aarebrücke» diente während des 2. Weltkrieges als Militär-
Kriegsausbruch 1939. die Uniform stürzte, und sie als unterkunft.
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